Ministerium gegen Einsamkeit - Es braucht neue Formen sozialer Integration

Blog  |  31.01.2018 |  Andrea Obermühlner

Mehr als neun Millionen Briten fühlen sich häufig einsam. Die Hälfte der über 75-Jährigen in Großbritannien lebt demnach allein, etwa 200.000 Seniorinnen und Senioren hätten höchstens einmal im Monat ein Gespräch mit einem Freund oder Verwandten. Was verdeutlicht diese Studie (Rotes Kreuz)?

Diakoniewerk Erdberg By Nadja Meister Img 1242

Großbritannien hat seit 17.1.2018 eine Ministerin, die sich um das Thema Einsamkeit kümmern soll. Premierministerin May begründete den Schritt mit der "traurigen Realität des modernen Lebens", die Millionen Menschen betreffe. Mehr als neun Millionen der knapp 66 Millionen Briten fühlen sich laut Rotem Kreuz immer oder häufig einsam. Mit dem neuen Ministerium will May vor allem Seniorinnen und Senioren und deren pflegenden Angehörigen sowie solchen Menschen helfen, die um den Verlust eines ihnen nahestehenden Menschen trauern. Es gehe um "Menschen, die niemanden haben, mit dem sie reden oder ihre Gedanken und Erfahrungen teilen können", sagte die Regierungschefin.

Wir haben bei Dr.in Daniela Palk, Geschäftsführerin der Diakoniewerk Syncare GmbH, die sich mit innovativen Konzepten der Lebensraumgestaltung auseinandersetzt, gesprochen.

Mehr als neun Millionen Briten fühlen sich häufig einsam. Die Hälfte der über 75-Jährigen in Großbritannien lebt demnach allein, etwa 200.000 Senioren hätten höchstens einmal im Monat ein Gespräch mit einem Freund oder Verwandten. Was verdeutlicht diese Studie (Rotes Kreuz)?



Palk: „Wir alle fühlen uns manches Mal oder auch öfters einsam. Das allein ist noch kein Grund zur Beunruhigung, aber besonders ältere, kranke Menschen sind stärker von Einsamkeit betroffen. Auch Menschen mit Behinderung leiden oft an sozialer Ausgrenzung. Und diese Personengruppen haben es im Alltag aus unterschiedlichen Gründen schwerer, sich über soziale Kontakte Austausch, Rat oder Trost zu holen. Einsamkeit ist aber nicht nur ein soziales, sondern auch ein gesundheitliches Problem. Denn soziale Isolation macht krank wie dies bereits diverse Studien beleget haben. U.a gingen die Forscher der Brigham Young University im US-Bundesstaat Utah soweit, die Schädlichkeit zu beziffern. Ihnen zufolge ist Einsamkeit genauso gesundheitsschädigend wie der Konsum von 15 Zigaretten am Tag. Soziale Kontakte zu anderen Menschen sind ein fundamentales menschliches Bedürfnis. Die Studie des Roten Kreuzes zeigt uns, dass der Gestaltung sozialer Beziehungen eine große Bedeutung zukommen muss.“

Einsamkeit im Alter muss aber kein unabwendbares Schicksal

Wie kommt es zur Vereinsamung im Alter? Wie kann dem entgegen gewirkt werden?

In den vergangenen Jahrzehnten ist es zu einer zunehmende „Entfamiliarisierung“ und „Singularisierung“ älterer Menschen gekommen. Die Wohnentfernung zwischen Familienmitgliedern ist zum Beispiel gewachsen und der Anteil älterer Eltern, der in der Nähe ihrer Kinder lebt, ist kleiner geworden. Zudem verringert sich der „Aktionsradius“ von älteren Menschen aus unterschiedlichen Gründen – Ausstieg aus der Erwerbsarbeit, körperliche Einschränkungen, bauliche, soziale oder finanzielle Barrieren hindern an der sozialen Teilnahme, Teilhabe und Teilgabe.

Einsamkeit im Alter muss aber kein unabwendbares Schicksal für zukünftige Generationen alter Menschen sein. Gerade das nicht-familiäre Netzwerk – also Freunde, Nachbarn und Bekannte – könnte verstärkt Aufgaben der emotionalen Unterstützung übernehmen und so Einsamkeit entgegenwirken. Wenn es gelingt, neue Formen sozialer Integration zu finden, so könnte sich auch in Zukunft ein Erhalt stützender und tragender sozialer Beziehungen und damit verbunden eine Verringerung der Einsamkeit ergeben. Wir sprechen zum Beispiel von einem mit-sorgendem Netz, das von Menschen gebildet wird, die für eine verantwortungsvolle Gemeinwesenarbeit einstehen. Von einer ver-sorgten zu einer mit-sorgenden Nachbarschaft und Gemeinschaft.

Was heißt das konkret?

Palk: „Das Thema Einsamkeit und die gesamtgesellschaftlichen Folgen werden in den kommenden Jahren an Bedeutung zunehmen. Wir dürfen diese Herausforderung nicht negieren, sondern müssen neue Konzepte und ein neues Miteinander entwickeln, die der Vereinsamung von älteren Menschen entgegenwirken. Menschen wollen dort alt wer­den, wo sie wohnen. Damit verbunden müssen aber auch Unterstützungssysteme neue entwickelt werden – in einem sozialräumlichen Kontext. Das bedeutet, die Betroffenen selbst, die Familie, Nachbarn, professionelle Hilfe, Ehrenamt – alle „Kräfte, die im Nahraum der Personen stützend sein können“ gleichermaßen einzubeziehen und gemeinsam die jeweils individuelle Für-Sorge zu entwickeln – nicht im bisher gelebten Sinn einer strengen Aufgabenteilung, sondern mit einer neuen Perspektive eines Miteinander der jeweiligen Stärken und Kompetenzen. Nachbarschaftliche und familiäre Hilfeleistungen in Kombination mit einem verlässlichen professionellen Pflegesystem wären zum Beispiel mögliche tragende Säulen für ein selbstbestimmtes Wohnen und Leben im Alter.

Für Menschen im Alter realisiert das Diakoniewerk Angebote, durch die der Verbleib im vertrauten Lebensumfeld, eine selbstbestimmte Lebensführung und somit die Teilhabe an der Gesellschaft so lange wie möglich aufrechterhalten werden können. Ein wesentlicher Schritt in diese Richtung ist das Wohnquartierskonzept, das im Sinne der Sozialraumorientierung räumliche und soziale Gegebenheiten des Lebensumfelds nutzt und damit alle Menschen dieses Sozialraums – Menschen im Alter, Familien, Alleinerziehende, Menschen mit Behinderung – miteinander vernetzt, um den Bedürfnissen der BewohnerInnen im Quartier bestmöglich gerecht zu werden."

Das Interview führte Mag.a Andrea Obermühlner, Leitung Kommunikation & PR im Diakoniewerk.

Fotocredit: Nadja Meister

Neue Wohn- und Lebensformen als Angebote des Diakoniewerks:

Rosa Zukunft

Mehrzeller Nachbarschaft

Lebendige Nachbarschaft

Freiraum Gneis

Lebenswelt Aigen